Montag, 30. August 2010

Thilo Sarrazin


Kann das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen noch tiefer sinken? Kann der Tiefpunkt der Diskussionskultur noch unterschritten werden? Es kann bzw. er kann - leider!

Eigentlich hatten wir gedacht, die unsägliche Abrechnung mit einer bekannten Tagesschausprecherin wäre das Menetekel einer Diskussionunkultur, die nicht mit einem Diskussionsgast, sondern nur über ihn redet, weil man nicht mit ihm reden will. Doch gestern nacht bei Beckmann wiederholte sich das überwunden Geglaubte. Der Moderator, der sonst für alles und jeden Verständnis hat, der sich in die Seele jedes Verstörten zu schleichen, zu talken vermag, gebärdete sich als hätte er es mit dem Gottseibeiuns persönlich zu tun. Nur ja kein allzu langes Statement des Verfemten zulassen, nur ja nicht dem Gelegenheit geben sich zu erklären, der sich nicht mehr erklären darf!

Dem Bundesbankier wurde mehrmals das Wort rüde abgeschnitten, Zitate an die Wand geworfen, die er nicht erläutern durfte. Als Sarrazin Zahlen aus der Statistik, die jedem zugänglich sind, nennen wollte, um seine Ansicht zu untermauern, hob der Verständnisvolle die Arme und heuchelte Verständnislosigkeit: "Wer soll das alles noch begreifen?" Das war keine Diskussion, denn das Ergebnis bzw. das Urteil stand schon vorher fest.

Daß das so war, bestätigte ein Blick in die Diskussionsrunde. Da war niemand, der Sarrazin auch nur im Ansatz beispringen konnte, wenn man einmal von Herrn Jogeschwar absieht, der wenigstens die Grundsätze ziviler akademischer Diskussion zu wahren versuchte. Die Äußerungen von Frau Künast, Frau Özkan und dem Hamburger SPD-Vorsitzenden fielen so holzschnittartig und berechenbar aus wie der Regen in England. Und der Brustton der Überzeugung senkte sich auch nicht, als Sarrazin Frau Künast mehrmals nachwies, dies oder jenes niemals so formuliert, gesagt oder geschrieben zu haben.

Ebenso berechenbar war die Zuschaltung einer offenbar aus dem orientalischen Kulturkreis stammenden Soziologin, die prompt und wie zu erwarten feststellte, Sarrazins Äußerungen seien "kontraproduktiv". Genausogut könnte man in einer Diskussion über den Wahrheitsgehalt von Ostfriesenwitzen einen ostfriesischen Experten fragen, was er von solchen Witzen hielte. Er müßte schon sehr viel Humor oder Selbstkritik besitzen, um nicht negativ zu replizieren.

Die türkisch-deutsche Islamkritikerin Necla Kelek besitzt diese Selbstkritik oder sollte man eher sagen die Fähigkeit, die Dinge von einer Metaebene zu betrachten, die das Problem sieht und der Sache dient. Frau Merkel war schnell mit dem Urteil bei der Hand, Sarrazins Thesen seien "nicht hilfreich". Daß sie das Buch Sarrazins nur ebenso oberflächlich bis gar nicht gelesen haben konnte wie Frau Künast störte nicht. Es zählt allein die richtige moralische Gesinnung.

Und hier ist das Problem: man muß Sarrazins Thesen nicht gutheißen, man kann sie aus vollem Herzen ablehnen! Aber man soll dann auch begründen können, warum man seine Thesen ablehnt. Der Gestus der moralischen Entrüstung, die Reduzierung komplexer Thesen auf tabuisierte Begriffe soll bewußt nicht der Wahrheitsfindung dienen, sondern der Aburteilung. Das ist einer angeblich offenen Gesellschaft so unwürdig wie die Tatsache, daß es in einer angeblich weltoffenen Stadt wie Berlin Parallelgesellschaften gibt, in denen Frauen Menschen zweiter Klasse sind.

Sarrazin sagte bei der Vorstellung seines Buches, er sei ein Gestaltungsoptimist und er glaube an den öffentlichen Diskurs. Wer daran nach der öffentlichen Diskursverweigerung der letzten Tage noch glaubt muß ein heilloser Optimist sein.